Im vollbesetzten Zug nach Varanasi …

am 08.01.2019 / in zitate & fakten / unter #

Als wir weiterfahren, fällt mein Blick zurück auf eine Frau. Ich bin unfähig wegzusehen. Seit über zweihundert Kilometern, das sind fünf Stunden, behalte ich sie im Auge. Ich will leiden, jeder Blick auf sie provoziert. Sie gehört der indischen Mittelklasse an, sie ist kein Einzelfall. Sie strotzt vor Fett und geistiger Enthaltsamkeit. Sie sitzt und frisst. Man sieht ihr den Unwillen an, sich zum Klogang zu erheben, um das viele Fressen wieder loszuwerden. Hat sie sich tatsächlich überwunden, plumpst sie zurück auf den Sitz. Und wartet, bis sich der einzig funktionierende Trieb zurückmeldet (er meldet sich bald) und das Fressen von vorn beginnt. Sie wendet nicht einmal den Blick, wenn ein Polio-Krüppel an ihr vorbeirutscht und die Hand ausstreckt. Auch kommt sie nie auf die Idee, bitte und danke zu sagen, wenn das Personal die dringend verlangten Kalorien vorbeibringt. Hat sie die Kraft, dann rollt sie zurück auf die Liege, die andere Passagiere bereits geräumt haben. Fehlt die Kraft, so reicht es nur zum Sitzen und Stillhalten der hundert Kilo. Nicht, dass man sie beim Aufschlagen einer Zeitung erlebt hätte. Ein Buch in den Händen scheint nicht vorstellbar. Natürlich döst sie in der untersten Koje, damit kein Schweiß ausbricht beim Klettern nach oben. Das aufblasbare Kissen liegt immer bereit, auf dass sich die Fettschwarte nicht an der harten Wirklichkeit stößt. Ich hätte Lust, sie zu watschen. Um uns beiden gut zu tun: Ich wäre mein Wut los, und sie würde aufwachen. Hopefully.

Aus dem Buch «Notbremse nicht zu früh ziehen» von Andreas Altmann (Rowohlt)

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